Best Practice: Medizinisch-Taktile Untersucherin

(Weitergeleitet von Discovering Hands)

Jessica van Bebber, 36 Jahre alt


Ausbildung: Medizinisch-Taktile Untersucherin (MTU)
Tätigkeiten: Taktilographie (spezielle Brusttastuntersuchung in der Brustkrebsfrüherkennung), Zusatzqualifikation Anleitung zur Taktilen Selbstuntersuchung (ATS)
Art der Behinderung Blind, Sehfähigkeit ein Prozent
Hilfsmittel: Jaws, Screenreader und zusätzlich Braillezeile
Prozessbeteiligte: Arbeitgeber, Kostenträger, TrainerInnen/Berufsförderungswerk Düren, Hilfsmittelhersteller, kooperierende Praxispartner

Wie gestaltete sich der erste Kontakt?

Foto MTU und Patientin in Beratungssituation

Nachdem ich einige unterschiedliche berufliche Tätigkeiten ausgeübt habe und Erfahrungen sammeln konnte, habe ich gemerkt, dass mir die Arbeit mit und am Menschen sehr viel Spaß macht und sehr liegt. Daraufhin begann ich, 2015 im Internet zu recherchieren. Ich stieß schnell auf discovering hands. Sehr interessiert las ich auf der Internetseite des Sozialunternehmens vom Beruf der Medizinisch-Taktilen Untersucherin (MTU) bei dem der hochsensible Tastsinn blinder und sehbehinderter Menschen in der Brustkrebsfrüherkennung zur Berufung wird. Sofort hat mich diese absolut sinnvolle Tätigkeit nicht nur überzeugt, sondern völlig fasziniert: ein Beruf, der nicht näher am Menschen sein könnte. Ein Tätigkeitsfeld, in dem ich alle meine persönlichen und fachlichen Fähigkeiten endlich einmal vollständig einbringen kann: große Empathie und Sozialkompetenz, Vielfältigkeit und vor allen Dingen etwas ganz Wichtiges: eine sinnvolle Tätigkeit auszuüben, mit der man im besten Falle ein Menschenleben retten kann. Diese Argumente haben mich so überzeugt, dass ich mich sofort mit dem Unternehmen in Verbindung setzte und sehr schnell davon überzeugt war, diese Tätigkeit einmal selbst ausüben zu wollen!

Welche Schwierigkeiten/Befürchtungen gab es, …?

Leider dauerte es noch über eineinhalb Jahre, bis ich 2017 mit meiner neunmonatigen Qualifizierung zur MTU starten konnte. Dies hatte persönliche Gründe und ich musste die entsprechende Kostenübernahme für die Weiterbildungsmaßnahme bewilligt bekommen. Aber wo ein Wille ist, ist auch ein Weg!

Welche Unterstützung hatte das Unternehmen in dieser Zeit?

Für die Durchführung der Qualifizierungskurse zur MTU kooperiert discovering hands mit Bildungsträgern der beruflichen Rehabilitation für blinde und sehbehinderte Menschen. Meine sechsmonatige theoretische Vorbereitung fand am BFW Düren statt. Hier lernte ich wichtige medizinische Grundlagen für meinen späteren Beruf, aber auch die praktische Arbeit mit und an der Patientin. Nachdem wir ein einwöchiges Klinikpraktikum absolviert und die theoretische Prüfung hinter uns gebracht hatten, begann der spannendste Teil der Ausbildung: das dreimonatige Praktikum bei niedergelassenen Ärzten. Hier habe ich die Untersuchung zum ersten Mal komplett selbständig durchführen dürfen. Selbstverständlich immer unter fachlicher ärztlicher Anleitung und mit ständiger Begleitung durch meine Ausbilderin.


Foto Gespräch zwischen MTU, Ärztin und Patientin

Foto Kugelkette zur Diagnostik Foto einer Tastuntersuchung an einer Patientin


Welche Vorteile hat das Unternehmen und wie ist die langfristige Perspektive?

Das Unternehmen hat eine qualifizierte und höchst motivierte Mitarbeiterin mit einer einzigartigen Fähigkeit für sich gewonnen – meinen durch die Sehbehinderung bedingten hochsensiblen Tastsinn. Auf dieser Fähigkeit basiert das Geschäftsmodell von discovering hands. Nur (nahezu) blinde Menschen können die Taktilographie durchführen. Dieser medizinische Assistenzberuf ist konkurrenzlos für sehbehinderte Menschen. Die Einstellung erfolgte fest und unbefristet, was mir eine große Sicherheit gibt. Das Sozialunternehmen „verleiht“ mich per Arbeitnehmerüberlassung an Frauenarztpraxen, in denen ich jeweils feste Einsatztage habe, einen oder mehrere in der Woche.


discovering hands - Vorstellung des Unternehmens

Das vielfach mit Preisen ausgezeichnete gemeinnützige Sozial- und Inklusionsunternehmen discovering hands bietet blinden und stark sehbehinderten Frauen ab 18 Jahren, die über einen besonders sensiblen Tastsinn verfügen, eine Qualifizierungsmöglichkeit für einen einzigartigen und konkurrenzlosen medizinischen Assistenzberuf: Medizinisch-Taktile Untersucherin. Nach bestandener Abschlussprüfung stellt discovering hands die MTU fest und unbefristet ein. Da die Diagnose aufgrund des MTU-Befundes direkt im Anschluss eine verantwortliche Ärzt*in stellen muss, kooperiert das Unternehmen mit gynäkologischen Facharztpraxen. Inzwischen sind es deutschlandweit etwa 100. Frauen jeden Alters können dort die Taktilographie, so der Name der speziellen Brusttastuntersuchung, wahrnehmen, unabhängig davon, ob sie in der Praxis Patientinnen sind. Bereits 29 gesetzliche und alle privaten Krankenkassen übernehmen die Untersuchungskosten. Die Taktilographie kann aber auch als Selbstzahler-Leistung in Anspruch genommen werden. Qualifizierte Medizinisch-Taktile Untersucherinnen können viel dazu beitragen, dass Brustkrebs diagnostiziert wird, solange ein Tumor noch nicht gestreut hat. Denn erst dann wird die Krankheit lebensbedrohlich. Das Sozialunternehmen discovering hands hat das Tätigkeitsfeld der MTU entwickelt und durch wissenschaftliche Studien die Wirksamkeit der Taktilographie bestätigen lassen.

Die MTU als spezialisierte Taktile Untersucherin kann etwa 30 % mehr und bis zu 50 % kleinere Gewebeveränderungen (5 bis 8 mm) finden als Ärzt*innen (1 bis 2 cm). Ihren ausgeprägten Tastsinn nutzen MTU bei der Taktilographie, um Brustgewebe sowie Lymphbahnen und -knoten an Hals, Brustbein und Achseln der Patientin millimetergenau und schmerzfrei zu untersuchen. Selbstklebende haptische Orientierungsstreifen auf der Brust dienen als Koordinatensystem. Die Brusttastuntersuchung dauert je nach Brustgröße 30 bis 60 Minuten und ist reine „Handarbeit“, was die untersuchten Frauen als sehr angenehm empfinden. Sie stellen auch Fragen rund um die Brustgesundheit. Viele freuen sich auf ihren jährlichen Termin. Manche Risikopatientinnen kommen in kürzeren Abständen.

Anhand des Tastbefundes der MTU stellen Fachärzt*innen direkt im Anschluss die Diagnose. Bei einem unklaren Befund, folgt ein Ultraschall und eventuell eine Mammographie. Das ist aber selten, denn bei den allermeisten Taktilograpien finden die MTU keine Gewebeveränderungen und können die Frauen mit einem sicheren Gefühl aus der Untersuchung verabschieden. Das Besondere an der Taktilographie ist, dass die MTU mit ihrem ausgeprägten Tastsinn im Vergleich zu einer sehenden Person sehr viel kleinere Knoten ertasten, die sich dann manchmal auch als bösartig herausstellen. Wenn Brustkrebs in einem solch frühen Stadium entdeckt wird, ist er jedoch fast immer heilbar.

Die Qualifizierung zur MTU dauert neun bis zehn Monate. discovering hands kooperiert dabei mit speziellen Bildungsträgern der beruflichen Rehabilitation für blinde und sehbehinderte Menschen (aktuell: SFZ Berlin und BBS Nürnberg). Seit 2019 ist es auch Frauen ohne eine Kostenübernahme durch einen öffentlichen Kostenträger durch ein Stipendium von discovering hands möglich, an der Fortbildung zur MTU teilzunehmen. Neben der intensiven Schulung der Tastfähigkeit sind weitere Inhalte der Ausbildung medizinisches Wissen, soziale Fertigkeiten im Umgang mit den Patientinnen, die Anamnese und die schriftliche Befund-Dokumentation am PC.

Die theoretische Ausbildung umfasst medizinische Grundlagen der Physiologie, Pathologie, Anatomie, Myologie, Osteologie und Zytologie. In Praxisstunden wird grundlegend die Arbeit mit und an der Patientin gelernt. Auf ein einwöchiges Klinikpraktikum und die theoretische Prüfung folgt das dreimonatige Praktikum bei wohnortnahen niedergelassenen Ärzt*innen unter fachlicher ärztlicher Anleitung und mit Betreuung der Ausbilderin. Nach der Praxisphase wird eine praktische Abschlussprüfung absolviert.

Medizinisch-Taktile Untersucherinnen sind in Praxen und Kliniken tätig sowie bei Betriebsuntersuchungen im Rahmen der Brustkrebsfrüherkennung. Aber nicht nur das professionelle Abtasten des Brustgewebes ist Teil des Berufes, sondern auch das professionelle Anleiten von Frauen zur Selbstabtastung der eigenen Brust, die ca. einstündige 1:1-Anleitung zur Taktilen Selbstuntersuchung (ATS), die seit 2020 auch online angeboten wird.

Der einzigartige Beruf der Medizinisch-Taktilen Untersucherin verbindet die verbesserte berufliche Inklusion blinder Frauen und eine zusätzliche gerätefreie Untersuchung, die die Brustkrebsfrüherkennung nicht nur ergänzt, sondern auch verbessert.


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